Gottfried Keller
aus: Der grüne Heinrich - 1. Buch, 4. Kapitel (1854)
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Infolge dieses rührenden Bestrebens und auf das Zureden einer nichtsnutzigen Heuchlerin wollte sie eines Sonntags, als wir uns eben zu Tische gesetzt hatten, das Tischgebet einführen, welches bis dahin nicht üblich gewesen in unserm Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein kleines altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und nicht weiter konnte!
Das Essen dampfte auf dem Tische, es war ganz still in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut hervor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen, und sie liess es für diesmal bewenden, da sie mein Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte: «Warum willst du nicht beten? Schämst du dich?» Das war nun zwar der Fall, ich vermochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es getan, es doch nicht wahr gewesen wäre in dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Zeremonie, welche mir alsobald unbesieglich widerstand. Es war nicht Scham vor der Welt, wie es der Priester zu nennen pflegt; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war? Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten.
«Nun sollst du nicht essen, bis du gebetet hast!» sagte die Mutter, und ich stand aut und ging vom Tische weg in eine Ecke, wo ich in grosse Traurigkeit verfiel, die mit einigem Trotze vermischt war. Meine Mutter aber blieb sitzen und tat so, als ob sie essen wurde, obgleich sie es nicht konnte, und es trat eine Art düstrer Spannung zwischen uns ein, wie ich sie noch nie gefühlt hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie ging schweigend ab und zu und räumte den Tisch ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Stäubchen darin wäre, wieder herein und sagte: 'Da kannst du essen, du eigensinniges Kind!» worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Tränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken liess, sobald die heftige Bewegung nachliess. Auf dem Wege zur Schule liess ich es nicht an einem vergnügten Dankseufzer fehlen für die glückliche Befreiung und Versöhnung.
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Gottfried Keller Der grüne Heinrich in: Erste Fassung. Hrsg. von Th. Böning und G. Kaiser, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.1985, S. 85 f. |