Gottfried Keller
aus: Der grüne Heinrich - 1. Buch, 4. Kapitel (1854)
(...) Die Speisen meiner Mutter hingegen ermangelten sozusagen aller und jeder Besonderheit. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mäger, der Kaffee nicht stark und nicht schwach, sie verwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt; sie kochte schlecht und recht, ohne Manieriertheit, wie die Künstler sagen, in den reinsten Verhältnissen; man könnte von ihren Speisen eine grosse Menge geniessen, ohne sich den Magen zu verderben. Sie schien mit ihrer weisen und massvollen Händ, am Herd stehend, täglich das Sprichwort zu verkörpern: Der Mensch isst, um zu leben, und lebt nicht, um zu essen! Nie und in keiner Weise war ein Überfluss zu bemerken und ebensowenig ein Mangel. Diese nüchterne Mittelstrasse langweilte mich, der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte, und ich begann, über ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu üben, sobald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt war. (...)
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Gottfried Keller Der grüne Heinrich in: Erste Fassung. Hrsg. von Th. Böning und G. Kaiser, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.1985, S. 85 f. |