Karl Kraus - Die letzten Tage der MenschheitKarl Kraus
aus: Die letzten Tage der Menschheit - 2. Akt, 12. Szene (1919)

(Kärntnerstrasse. Ein starker Esser und ein normaler Esser treffen. sich.)

DER NORMALE ESSER: Na wie gehts, wie überstehn Sie den Weltkrieg?

DER STARKE ESSER: Ich bitt Sie, fragen Sie nicht, geben Sie mir lieber ein paar Brotkarten von sich, ich sammel wo ich kann.

DER NORMALE ESSER: Was fällt Ihnen ein, ich komm selber nicht aus. Und dabei bin ich doch nur ein normaler Esser! Aber ich kann mir denken, wie wütend Sie sein müssen. Erst gestern hab ich zu meiner Frau gesagt, das is nichts für Tugendhat, Tugendhat is bekanntlich ein starker Esser. Wir haben nämlich grad in der Presse gelesen, wie sie interessant auseinandergesetzt hat, wie die starken Esser mehr brauchen wern wie die normalen Esser, wo doch schon die normalen Esser mehr brauchen wie die schwachen Esser.

DER STARKE ESSER: Sind Sie ein schwacher Esser?

DER NORMALE ESSER: Das kann ich gerade nicht sagen, mittel, ich bin ein normaler Esser. Aber ich komm auch nicht aus. Wenn das so weiter geht, kann mir der ganze Krieg gestohlen wern.

DER STARKE ESSER: Das kann sich auch unmoglich halten. Ich bin bekanntlich ein starker Esser, ich hätt der Statthalterei Auskunft geben können, was man so im Tag braucht.

DER NORMALE ESSER: Aber das muss man zugeben, eine Sensation war dieser erste Tag der Brotkarte. Selbst kann man ja nur von sich selbst schliessen, aber nach der Presse hat man einen Begriff, was sich da getan hat.

DER STARKE ESSER: Ja, sie is ins Detail gegangen. Hundert Berichterstatter hat sie in alle Lokale geschickt. In jedem war's aber auch anders. Während sich zum Beispiel beim »Leber« die Stammgäste mit der neuen Einrichtung befreundeten -

DER NORMALE ESSER: - hatten die Kellner im »Weingartl« alle Hände voll zu tun -

DER STARKE ESSER: - die Fragen der Neugierigen zu beantworten. In sämtlichen Lokalen soll aber eines gleich gewesen sein, nämlich, dass sich um den Zahlkellner, so oft er die Schere aus der Tasche zog -

DER NORMALE ESSER: - Gruppen gebildet haben. Kein Wunder, kann es denn eine grössere Umwälzung geben?

DER STARKE ESSER: Ja, es ist entsetzlich, was wir hier durchzumachen haben.

DER NORMALE ESSER: Na, wenigstens haben uns die im Schützengraben nicht zu beneiden.

DER STARKE ESSER: Ich muss faktisch zugeben, am ersten Tag der Brotkarte - da hatte ich das Gefühl wie bei der Feuertaufe. Nur mit dem Unterschied, bei der Feuertaufe, da kann man sich's richten. Aber bei der Brotkarte? Sind Sie eigentlich ein starker Esser -?

Karl Kraus - Die letzten Tage der Menschheit (Audio CD)DER NORMALE ESSER: Mittel. Ich bin ein normaler Esser.

DER STARKE ESSER: Ja aber ich, der ich bekanntlich ein starker Esser bin, da muss ich denn doch sagen - wissen Sie - jeder Mensch in Wien fragt mich, alle sind neugierig, was ich tun wer' -

DER NORMALE ESSER: Das kann ich Ihnen nachfühlen, ein starker Esser wie Sie, wo doch selbst ich als normaler Esser -

EIN HUNGERNDER (nähert sich ihnen, streckt die Hand aus): Bitt schön, hab nichts zu essen -

DER STARKE ESSER: - und da ich bekanntlich ein starker Esser bin - (sie gehen im Gespräch ab.)


Buchllink Tonträger
Karl Kraus
Die letzten Tage der Menschheit
in: Pegasus Verlag, Gregor Müller, Zürich (1945), S. 252 ff. oder Kösel Verlag, München (1957), S. 264 f.