Hugo Loetscher
aus: Die Welt zu Tisch

Was, wenn die Nahrungsmittel zu ihrer kulturgeschichtlichen Biographie kämen? Ich könnte mir vorstellen, dass auf den Packungen unserer Nahrungsmittel in Zukunft nicht nur das Verfallsdatum steht und nicht nur über die Chemie Auskunft gegeben wird, damit ich erfahre, dass es bei meinen Oliven im Glas nicht ohne Bindemittel und Genusssäure ging. Müsste man der Hirse nicht die Ehre antun und daran erinnern, dass sie einst auch bei uns ein Hauptnahrungsmittel war? Und beim Mais nicht nur die Angaben für eine Polenta aufdrucken, sondern erwähnen, dass der Mais in einem seiner Ursprungsländer, bei den Mayas, nicht als Ware gehandelt wurde, da für die Grundnahrung der Hunger als Nachfrage genügt und nicht zum Geschäft werden darf. Zu solchen Biographien gehörten unabdingbar die Routen, welche die Pflanzen und die Tiere im Lauf der Geschichte zurücklegten; nicht nur von der Seiden-Strasse reden, sondern auch von der Reis-Strasse oder von den Wegen und Umwegen des Schwarztees, davon, wie der Eukalyptus nach Kalifornien kam und die Zuckerrübe nach Russland. Und bei den Routen nicht nur die geographischen meinen, sondern auch die sozialen wie etwa die der Dattel: dass aus der monotonen Nahrung der Armen eine Delikatesse wurde, und dass die Kastanie in der Südschweiz eine ähnliche Karriere zurücklegte, indem sie den Gotthard überstieg. Dabei würde uns bewusster, wie bei Tisch Fremdes und Einheimisches schon immer ineinander übergingen, eine Erkenntnis, die nicht nur Topf und Teller zugute kommt.


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Hugo Loetscher
Die Welt zu Tisch