Illustration in Anlehnung an die französische Originalausgabe von 1901-1906
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Warum bin ich gerade an dem Abend in jene Bierhalle gegangen? Ich ahne es nicht. Es war kalt. Ein feiner Regen, eine Art Wasserstaub flatterte durch die Luft, verhüllte die Gaslaternen mit durchsichtigem Dunst, machte die vom Schimmer der Ladenauslagen überzogenen Gehsteige glänzend und beleuchtete den feuchten Strassenkot und die schmutzigen Füsse der Passanten.
Ich schritt ohne Ziel dahin. Ich machte mir ein wenig Bewegung nach dem Essen. Ich ging am Credit Lyonnais vorbei, an der Rue Vivienne und noch an anderen Strassen. Auf einmal erblickte ich eine grosse, halbvolle Bierhalle. Ohne irgendeinen Grund trat ich ein. Ich hatte keinen Durst.
Mit einem Blick über den Saal suchte ich mir einen Platz, wo ich nicht zu sehr im Gedränge sein würde. Ich wählte einen neben einem Mann, der alt aussah und aus einer kohlschwarzen irdenen Pfeife zu zwei Sous rauchte. Sechs bis acht gläserne Untertassen, die vor ihm auf dem Tisch aufgebaut waren, zeigten die Anzahl der Liter Bier an, die er schon zu sich genommen hatte. Ich unterzog meinen Nachbar einer Prüfung; auf den ersten Blick hatte ich den Gewohnheitstrinker erkannt, einen jener Bierhausstammgäste, die morgens kommen. wenn geöffnet wird, und abends weggehen, wenn man schliesst. Er war schmutzig und auf der Mitte des Schädels kahl, während ihm lange, fettige, pfeffer- und salzfarbige Haare über den Kragen seines Gehrocks herunterfielen. Seine Kleider, die ihm zu weit waren, schienen zu einer Zeit gemacht zu sein, als er noch einen dicken Bauch hatte. Man erriet, dass seine Hose nicht halte und dass dieser Mann keine zehn Schritte machen könne, ohne dies schlechtsitzende Kleidungsstück festzuhalten und hochzuziehen. Trug er eine Weste? Der Gedanke allein an seine Schuhe und was darin war erfüllte mich mit Schrecken. Seine ausgefransten Manschetten waren vollig schwarz wie seine Nägel.
Kaum sass ich an seiner Seite, so fragte mich dieser Mensch mit ruhiger Stimme: "Geht's dir gut?"
Mit einem Ruck drehte ich mich ihm zu und schaute ihn von oben bis unten an. Er fuhr fort: "Du erkennst mich nicht?"
"Nein."
"Des Barrets."
Ich war starr! Es war Graf Jean Des Barrets, mein alter Institutskamerad.
Ich drückte seine Händ und war so bestürzt, dass mir nichts zu sagen einfiel.
Endlich stotterte ich: "Und du? Wie geht's dir?"
Er antwortete gelassen: "So, wie mir's eben gehen kann."
Er hörte aufzu reden. Ich wollte höflich sein und suchte nach einer Redewendung: "Und...was treibst du?"
Er antwortete resigniert: "Du siehst ja."
Ich fühlte, wie ich rot wurde, beharrte aber bei meiner Frage:
"Alle Tage?"
Er antwortete und blies dabei dicke Rauchwolken in die Luft: "Es ist alle Tage das gieiche!"
Dann klopfte er mit einem Suu, der dalag, auf den Marmor des Tisches und rief laut: "Kellner, zwei grosse Bier."
Eine Stimme in der Entfernung wiederholte: "Zwei grosse Bier auf Tisch vier!" Eine andere noch entferntere schmetterte mit hohem Ton: "Bitteschön!" Dann erschien ein Mann in weisser Schürze mit zwei Krügen Bier in der Händ, dessen gelbe Tropfen beim Herbeilaufen den sandbestreuten Boden netzten.
Des Barrets leerte auf einen Zug sein Glas und stellte es auf den Tisch nieder, während er den weissen Schaum einsog, der auf seinem Schnurrbart geblieben war.
Dann fragte er: "Was gibt’s Neues?"
Ich hatte ihm wahrhaftig nichts Neues zu sagen und stammelte: "Nichts, mein Alter. Ich bin Kaufmann."
Er sagte mit seiner stets gleichbleibenden Stimme: "Und ... du findest das unterhaltend?"
"Nein. aber was soll man machen? Irgend etwas muss man doch tun!"
"Warum denn?"
"Ja...um sich zu beschäftigen." -
"Wozu denn? Ich, wie du siehst. tue nichts, gar nichts. Ich verstehe, dass man arbeitet, wenn man kein Geid hat. Wenn man aber genug hat, um zu leben, ist es überflüssig. Wozu arbeiten? Tust du es für dich oder für die anderen? Wenn du es für dich tust, so macht es Spass, und dann ist alles in Ordnung; tust du es für die andern, so bist du nur ein Dummkopf."
Dann legte er seine Pfeife auf die Marmorplatte des Tisches, rief von neuem: "Kellner, ein grosses Bier!" und fuhr fort: "Reden macht mir Durst. Ich bin's nicht gewohnt. Ja, ich tue nichts, ich lasse mich gehen und werde auf diese Weise alt. Wenn ich zum Sterben komme, werde ich nichts zu bedauern haben. Ich werde keine andere Erinnerung haben als dieses Bierhaus. Keine Frau, keine Kinder, nichts. Es ist besser so."
Er leerte den Krug Bier, den man ihm gebracht hatte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und griff wieder nach seiner Pfeife.
Ich schaute ihn ganz verblüfft an und fragte: "Aber du bist doch nicht immer so gewesen?"
"Entschuldige, immer so, seit dem Institut!"
"Aber das ist ja kein Leben, mein Guter, das ist etwas Schreckliches. Schau her, etwas tust du doch gewiss, du hast irgend etwas gern, du hast Freunde..."
"Nein. Ich stehe um zwölf Uhr auf. Ich komme hierher, gabelfrühstücke, trinke ein Bier nach dem andern, warte, bis es dunkel wird, mache meine Hauptmahlzeit und trinke wieder ein Bier nach dem andern. Dann gehe ich gegen halb zwei in der Frühe nach Haus und schlafe, weil man hier schliesst, und das langweilt mich am meisten. Von den letzten zehn Jahren habe ich mindestens sechs auf dieser Bank in meiner Ecke verbracht, und den Rest in meinem Bett, nie anderswo. Manchmal schwatze ich etwas mit den Stammgästen."
"Aber wie du nach Paris gekommen bist, was hast du da zuerst gemacht?"
"Ich habe Jura studiert im Cafe Medici."
"Aber danach?"
"Danach bin ich aufs andere Seineufer gezogen und hierher gekommen."
"Warum hast du dir diese Mühe gemacht?"
"Was willst du, man kann nicht sein ganzes Leben im Quartier Latin verbringen. Die Studenten dort machen zu viel Lärm. Jetzt rühre ich mich nicht mehr von hier. Kellner, ein grosses Bier."
Ich glaubte, er mache sich über mich lustig und liess nicht locker.
"Schau, sei doch aufrichtig. Es drückt dich irgendein grosser Kummer? Gewiss irgendeine verzweifelte Liebe? Ohne Frage bist du ein Mann, den schweres Unglück getroffen hat. Wie alt bist du?"
"Dreiunddreissig Jahre, aber ich sehe aus wie mindestens fünfundvierzig."
Ich sah ihm gerade ins Gesicht. Es war faltig und ungepflegt und schien beinahe das eines Greises. Auf seinem Scheitel flatterten einige lange Haare über seiner Kopfhaut von zweifelhafter Reinlichkeit. Er hatte riesige Augenbrauen, einen starken Schnurrbart und einen dichten Bart. Plötzlich. ich weiss nicht warum, tauchte vor meinem Auge das Bild eines Waschbeckens voll schwärzlichen Wassers auf, Wasser, in dem all dies Haar gewaschen worden wäre.
Ich sagte zu ihm: "Du siehst tatsächlich älter aus, als du bist. Du scheinst viel Kummer gehabt zu haben."
Er erwiderte: "Nein, bestimmt nicht. Ich bin alt, weil ich nie an die Luft komme. Nichts bringt einen Menschen so herunter wie das Herumsitzen in Wirtshäusern."
Ich konnte es nicht glauben. "Du hast gewiss auch ein tolles Leben geführt. Man ist nicht kahl wie du, wenn man nicht viel geliebt hat."
Er schüttelte ruhig den Kopf und streute dabei auf seinen Rücken kleine weisse Schuppen. die aus seinen letzten Haaren fielen. "Nein, ich war immer vernünftig." Und erhob das Auge gegen den Kronleuchter, der uns den Kopf erwärmte, und fuhr fort: "Wenn ich kahl bin. so ist das Gas daran schuld, der Todfeind des Haars. - Kellner, ein grosses Bier! - Du bist nicht durstig?"
"Nein, danke. Aber ich nehme wirklichen Anteil an dir. Seit wann bist du derartig schlapp und gebrochen? Das ist nicht normal, das ist nicht natürlich. Dahinter steckt etwas."
"Ja, das geht auf meine Kindheit zurück. Als ich klein war, habe ich einen Stoss erlitten, und der hat mir alles zerstört und für immer, bis es mit mir aus ist."
"Was war es denn?"
"Du willst es wissen? Also, hõre! Du erinnerst dich doch an das Schloss, wo ich aufgezogen worden bin, denn du bist fünfoder sechsmal während der Ferien hingekommen. Du erinnerst dich an das grosse graue Gebäude, mitten in einem grossen Park, und die langen Eichenalleen, die sich gegen die vier Himmelsrichtungen öffneten, du erinnerst dich an meinen Vater und an meine Mutter, die beide steif, feierlich und streng waren.
Ich vergötterte meine Mutter, ich hatte Angst vor meinem Vater und Ehrfurcht vor beiden und war übrigens gewöhnt, dass jedermann vor ihnen Bücklinge machte. Sie hiessen in der ganzen Gegend der Herr Graf und die Frau Grafin, und auch unsere Gutsnachbarn. die Tannemare, die Ravelet, die Brenneville, bezeugten meinen Eltern eine besondere Hochachtung.
Ich war damals dreizehn Jahre alt, lustig, mit allem zufrieden, wie man es in diesem Alter ist, ganz erfüllt vom Glück, zu leben.
Da erblickte ich einmal Ende September, wenige Tage vor der Rückkehr ins Institut. als ich gerade unter den dichten Baumgruppen desParks Wolf spielte und zwischen den belaubten Ästen herumlief, beim Überqueren einer Allee den Papa und die Mama, wie sie spazierengingen.
Ich erinnere mich an all das, als ob es gestern gewesen wäre. Es war ein Tag mit starkem Wind. Die ganze Baumreihe beugte sich unter den Windstössen, stöhnte, schien Schreie auszustossen, diese gewissen dumpfen, tiefen Schreie, in die Wälder beim Sturm ausbrechen.
Die abgerissenen, schon gelben Blätter flogen wie Vögel, wirbelten umher und fielen nieder, dann liefen sie wie hurtige Tiere die Allee entlang.
Der Abend kam. In den Gebüschen wurde es dunkel. Dieses Wirbeln des Windes und der Zweige erregte mich, und ich lief herum wie ein Wahnsinniger und heulte, um die Wölfe nachzumachen.
Kaum hatte ich meine Eltern erblickt, so näherte ich mich ihnen mit leisen Schritten, von den Ästen verdeckt, um sie wie ein Wegelagerer richtig zu überfallen.
Aber einige Schritte von ihnen entfernt blieb ich plötzlich stehen, weil ich einen Schrecken bekam. Mein Vater schrie in einem fürchterlichen Zornesausbruch:
‚Deine Mutter ist eine dumme Gans. Übrigens handelt es sich nicht um deine Mutter, sondern um dich. Ich sage dir, dass ich dieses Geld brauche, und ich bestehe darauf, dass du unterschreibst.’
Die Mutter antwortete mit fester Stimme: ‚Ich werde nicht unterschreiben. Das ist Jeans Vermögen. Ich bewahre es für ihn auf und will nicht, dass du es mit Dirnen und Mägden vertust, wie du es mit deinem Erbteil gemacht hast.’
Da wandte sich der Vater wutbebend um, packte seine Frau beim Hals und begann, sie mit voller Wucht mit der anderen Hand mitten ins Gesicht zu schlagen.
Mamas Hut fiel auf die Erde, ihr Haar löste sich und ergoss sich über sie; sie versuchte die Schläge zu parieren, aber es gelang ihr nicht. Und Papa, er war wie ein Wahnsinniger und schlug darauf los. Sie glitt auf den Boden und versteckte ihr Gesicht zwischen ihre beiden Arme. Da warf er sie auf den Rücken, um sie weiter zu schlagen. und riss ihre Hände, mit denen sie sich das Gesicht bedeckte, auseinander.
Mir aber schien es, mein Lieber, dass die Welt untergehe, dass ihre ewigen Gesetze geändert seien. Ich empfand die innere Umwälzung, die man vor übernatürlichen Dingen, vor ungeheuerlichen Katastrophen, vor nicht wieder gutzumachenden Unglücksfällen empfindet. Mein kindliches Hirn wurde wirr und irr, und ich begann aus Leibeskräften zu schreien, ohne zu wissen, warum, ich war unsagbarem Schrecken und Schmerz, unsagbarer Bestürzung preisgegeben. Mein Vater hörte mich, stand auf, kam auf mich zu. Ich glaubte, er werde mich töten und entfloh wie ein gehetztes Wild. Ich lief ganz geradeaus in den Wald hinein.
Ich lief weiter, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei, ich weiss es nicht. Die Nacht war gekommen, ich fiel erschöpft aufs Gras und blieb dort liegen, ganz verloren und von Angst verzehrt und von einem Schmerz gewürgt, gross genug, um ein armes Kinderherz für immer zu brechen. Ich fror, ich hatte vielleicht Hunger. Der Tag brach an. Ich wagte nicht mehr aufzustehen, zu gehen, nach Hause zurückzukehren, oder auch davonzulaufen, denn ich fürchtete, meinem Vater zu begegnen, den ich nicht mehr wiedersehen wollte.
Ich wäre vielleicht vor Elend und Hunger am Fuss des Baumes, wo ich lag, gestorben, wenn mich der Förster nicht entdeckt und mit Gewalt zurückgebracht hätte.
Ich sah meine Eltern mit dem Gesichtsausdruck wieder, den sie alle Tage hatten. Meine Mutter sagte mir nur: ‚Was du mir für Angst gemacht hast, schlimmer Bub, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.’ Ich antwortete nicht, aber begann zu weinen. Mein Vater sprach kein Wort.
Acht Tage später war ich wieder im Institut.
Für mich, mein Lieber, war von jetzt ab alles aus. Ich hatte das andere, das böse Gesicht der Dinge gesehen, und von Jenem Tag an habe ich das gute nie mehr erblickt. Was ist in meinem Geist vorgegangen? Welch seltsamem Phänomen ist es zuzuschreiben, dass sich meine Anschauung von der Welt völlig umgekehrt hat? Ich weiss es nicht. Aber von da an habe ich weder Geschmack an etwas, noch Lust nach etwas, weder Liebe für dies oder das, noch auch irgendeine andere Begierde empfunden, nicht Ehrgeiz und nicht Hoffnung. Und immer sehe ich vor mir meine arme Mutter auf der Erde in der Allee liegen, wie mein Vater sie mit den Fäusten schlug. - Die Mama ist einige Jahre darauf gestorben. Mein Vater lebt noch. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. - Kellner, ein grosses Bier!"
Man brachte ihm seinen Krug, den er auf einen Zug leerte; Aber als er wieder seine Pfeife nahm, zitterte er und zerbrach sie. Da sagte er: "Schau her, das ist ein Schmerz für mich! Ich brauche einen Monat, um eine neue braun anzurauchen."
Und er schleuderte durch den weiten Saal, der jetzt voll von Rauch und von Trinkern war, seinen ewigen Ruf: "Kellner, ein grosses Bier...und eine neue Pfeife!"
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Guy de Maupassant Kellner, ein grosses Bier in: Fünfzig weitere Novellen, Manesse Verlag, Zürich (1967), S. 395 ff. oder Romane und Novellen, 1. Band, Phaidon Verlag, Essen, S. 416 ff. |