Leo N. Tolstoi - Die KreuzersonateLeo N. Tolstoi
aus: Die Kreuzersonate, Kap. VII (1891)

Und es war nicht allzu schwer, mich in die Falle zu locken, denn ich war unter Verhältnissen aufgewachsen, unter denen verliebte Jünglinge wie Piize aus dem Boden aufschiessen. Ist denn unsere überreichliche und stark gewürzte Nahrung, bei gänzlicher körperlicher Untätigkeit nicht dazu angetan, unsere Lüsternheit systematisch zu schüren? Sie mögen dazu den Kopt schütteln, so viel Sie wollen, es ist trotzdem so. Ich selbst habe bis vor kurzem all das auch nicht durchschaut. Jetzt ist es mir klar. Darum peinigt es mich auch so, dass niemand das einsieht, und dass die Menschen solch dummes Zeug daherreden, wie zum Beispiel diese Dame vorhin.

Leo N. Tolstoi - Die Kreuzersonate (Taschenbuch) In meiner Heimat arbeiten diesen Frühling die Bauern am Eisenbahndamm. Die gewöhnliche Nahrung des Bauernburschen ist Brot. Kwas und Zwiebel - und dabei ist er frisch, kräftig und gesund und schafft mit Leichtigkeit seine Feldarbeit. Dann verdingt er sich als Eisenbahnarbeiter, und seine Kost ist Grütze und ein Pfund Fleisch täglich. Aber er verdaut auch dieses Fleisch in sechzehnstündiger Arbeit hinter einem Karren von dreissig Pud, und gedeiht dabei. Und wir? Wir verzehren zwei Pfund Fleisch, Wild, Fische und allerhand warme Speisen und Getränke - wie wird unser Körper damit fertig? In sinnlosen Ausschreitungen. Wird das Sicherheitsventil nach dieser Richtung geöffnet, so ist alles in Ordnung, schliesst man aber das Sicherheitsventil, wie ich es zuzeiten getan habe, so tritt sofort ein Gärungsprozess ein, der sich durch das Prisma unseres unnatürlichen Lebens verwandelt und so dass Verliebtheit vom reinsten Wasser in Erscheinung tritt, manchmal sogar als eine platonische. Auch ich verliebte mich, wie sich alle verlieben.


Buchllink Buchllink (Taschenbuch) Leo N. Tolstoi
Die Kreuzersonate
in: Insel Verlag, Frankfurt a.M. (1984), S. 40 f. (Kap. 7) oder Eduard Kaiser Verlag, Klagenfurt (1973)