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Literaturfragmente:
Die Mageren und Hungrigen

Der Konflikt zwischen den Fetten und den Mageren hat die Menschen schon immer beschäftigt. Dies zeigt sich in der Malerei und in der Literatur.
Inhalt


BuchllinkLuigi Malerba/Tonino Guerra, Von dreien, die auszogen, sich den Bauch zu füllen:

Es ist ein Fehler, den Hunger zu nennen. Denn sowie du ihn nennest, kommt er sofort und fällt dich an, wie ein wildes Tier. Er kommt durch die Wände, überwindet Gebirge, reiset des Nachts und des Tages bei Hitze und Kälte und Regen.

Pieter van der Heyden - Die magere Küche - 1563 - Kupferstich - Grafische Sammlung der ETHZ
Pieter van der Heyden - Die magere Küche - 1563 - Kupferstich - Grafische Sammlung der ETH Zürich (siehe auch hier)
BuchllinkMarie Luise Kaschnitz, Grossküche:

Über den primitiven Feuerstellen, die nicht von Köchen in hohen weissen Mützen, sondern von farbigen Elendsgestalten bedient werden, steht in allen Sprachen derselbe Satz: Hunger ist der beste Koch.

Buchllink Audio-CD

BuchllinkHeinrich Heine, Ludwig Börne, Erstes Buch:

Es gibt im Grunde nur zwei Menschensorten, die mageren und die fetten, oder vielmehr Menschen, die immer dünner werden, und solche, die aus schmäch-tigen Anfängen allmählig zur ründlichsten Korpulenz übergehen. Die ersteren sind eben die gefährliche Sorte, die Cäsar so sehr fürchtete - ich wollte, er wäre fett, sagt er von Cassius.

BuchllinkHugo Loetscher, Die Papiere des Immunen:

Baron Hugues sagte, in seiner Heimat heisse es, Hunger sei der beste Koch. Aber der Marquis schüttelte den Kopf: "Was für eine Lüge." Er habe als Kind die Hungermärsche der Bauern gesehen, diese Bauern hätten sich auf jede Wurzel gestürzt, und er erinnere sich noch, wie sich hinter einem Schlachthaus eine ganze Familie mit den Vögeln und Hunden um Gedärme gestritten habe.Wenn man bedenke, was sich sonst aus Innereien zubereiten lasse, zum Beispiel aus Kutteln. Und auf seinen - er senkte leicht die Stimme und sah zu seiner Frau -, auf seinen nächtlichen Streifzügen durch Viertel, die auch zu Paris gehörten, sei er immer wieder auf Hungrige gestossen, die hätten Abfall durchwühlt, an irgend einem Hühnermagen gelutscht, in dem nichts als Sand war, und sie hätten Kartoffelschalen gekaut. Nein, der Hunger sei kein guter Koch, im Grunde dürfe man nur für satte Menschen kochen.

BuchllinkJuan Ruiz, Erzpriester von Hita, Das Buch der guten Liebe:

Als ich gerade mit Herrn Donnerstag-vor-Aschermittwoch bei Tisch war, brachte mir ein flinker Bote zwei Briefe.

"Von mir, der heiligen Fastenzeit, Dienerin des Schöpfers, von Gott zu jedem Sünder gesandt: allen Erzpriestern und Geistlichen, die ohne Liebe sind, Heil in Jesus Christus bis zum Osterfest. Ihr sollt wissen, dass man mir sagte, dass Herr Carnal seit etwa einem Jahr zornig, ganz ausser sich, umhergeht und mein Land verwüstet, viel Schaden dabei anrichtet und viel Blut dabei vergiesst: worüber ich am meisten zürne. (...) Sagt ihm ganz klar, dass heute in sechs Tagen ich in eigener Person und meine Truppen gegen ihn und sein Trotzen kämpfen werden: ich glaube, dass er vor uns nicht in den Fleischereien verharren kann."

Einen zweiten Brief brachte er mit, geöffnet und mit einem Siegel, mit einer sehr grossen Muschel, die vom Brief hing; das war das Siegel der erwähnten Dame. Die Nachricht war folgende, sie war an Carnal gesandt:

"Von mir, Frau Fastenzeit, (...) Hüterin der Seelen, die gerettet werden sollen, an dich, gefrässiger Carnal, der du dich nie zufrieden geben willst, schicke ich die Abstinenz, um dich an meiner Stelle herauszufordern: Heute in sieben Tagen sollst du und dein Heer mit mir auf dem Schlachtfeld sein: bis zum Karsamstag werde ich euch einen Kampf ohne Unterbrechung liefern; Tod oder Verletzung wirst du nicht entrinnen können."

BuchllinkWilhelm Raabe, Der Hungerpastor:

Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag. Wie er für die Welt im ganzen Schiwa und Wischnu, Zerstörer und Erhalter in einer Person ist, kann ich freilich nicht auseinandersetzen, denn das ist die Sache der Geschichte; aber schildern kann ich, wie er im einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt und wirken wird bis an der Welt Ende.

BuchllinkRobert Walser, Essen (I):

Wer eine Kartoffel so zu kochen versteht, dass sie eine lockende Nahrung für sich darstellt, beweist, dass er Sinn für die Kochkunst hat.

BuchllinkGuy de Maupassant, Idylle (1884):

"Ich habe Ihnen zu danken, Frau. Es waren zwei Tage, dass ich nichts gegessen hatte." ...

Buchllink Audio CD Cassette

BuchllinkBertolt Brecht, Das grosse Essen:

Auf der Insel Thurö wohnten ein Mann und eine Frau in äusserster Sparsamkeit. Der Mann trug sein Leben lang nur Hemden aus Säcken gemacht. Im Winter setzten sie sich, um nicht heizen zu müssen, vor die offene Stalltür und benutzten die Wärme der Rinder. Als sie, ganz kurz hintereinander, starben und zusammen beerdigt wurden, veranstaltete man aus ihrer Hinterlassenschaft oder durch Sammlung ein Begräbnisessen des ganzen Dorfes, wie das üblich ist. Das war das einzige ausgiebige Essen, das die beiden gegeben haben.

BuchllinkFranz Kafka, Ein Hungerkünstlker (1924):

Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. ...


BuchllinkBertolt Brecht, Die sieben Todsünden der Kleinbürger: 4 Völlerei:

Anna ist jetzt selber ein Star. Sie hat einen Kontrakt gemacht, nach dem sie ihr Gewicht halten muss, und darf also nichts essen. Eines Tages stiehlt sie einen Apfel und verspeist ihn im Geheimen, aber wie sie gewogen wird, wiegt sie ein Gramm mehr, und der Impresario rauft sich die Haare. Von nun an wird sie von ihrer Schwester beim Essen überwacht. Zwei Diener mit Revolvern servieren ihr, und von der gemeinsamen Platte darf sie nur ein kleines Fläschchen nehmen.

LIED DER FAMILIE

Da ist ein Brief aus Philadelphia
Anna geht es gut: sie verdient jetzt endlich.
Sie ist einen Kontrakt eingegangen als Tänzerin

Danach darf sie nicht zuviel essen.
Das wird schwer sein: sie ist sehr verfressen.
Wenn sie sich da nur an den Kontrakt hält!
Sie wollen keine Nilpferde in Philadelphia
Nun, natürlich.

Sie wird jeden Tag gewogen
Wehe, wenn sie ein Gramm zunimmt
Denn die stehen auf dem Standpunkt
52 Kilo haben sie erstanden
Und was mehr ist, wäre auch von Übel.

Aber Anna ist ja sehr verständig!
Sie wird sorgen, dass Kontrakt Kontrakt ist
Sie wird sagen: fressen kannst du schliesslich

In Louisiana, Anna. Hörnchen! Schnitzel! Hühnchen!
Und die kleinen gelben Honigkuchen!
Denk an unser Haus in Louisiana!
Sieh, es wächst schon, Stock- um Stockwerk wächst es!
Halte an dich: Fresssucht ist von Übel.

Kaethe Kollwitz - Brot - 1924 - Litographie 30x28 cm

Kaethe Kollwitz - Brot - 1924 - Litographie 30x28 cm
(siehe auch hier)
BuchllinkWalafried Strabo:

Salz, Brot, Lauch, Fische und Wein sind meine Speise.
Was brauch ich dann noch die Köstlichkeiten der Könige!

Ein kleiner Beitrag gegen den Hunger...
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BuchllinkOvid, Der Hunger (Ceres bestraft den Frevler Erysichthon) Metamorphosen, Liber VIII, V. 797- 833:

Auf dem Haupt eines wilden
Berges - Caucasus wird er genannt - gab frei sie der Schlangen
Rücken und sah nun dort auf steinigem Feld den gesuchten
Hunger mit Nägeln und Zähnen die dürftigen Kräuter sich rupfen.
Struppig sein Haar und hohl seine Augen, Blässe im Antlitz,
fleischlos die Lippen und grau, voll rauhen Schorfes der Rachen,
hart seine Haut, man konnte durch sie die Geweide erkennen.
Dürr über hohlen Lenden heraus ihm starrten die Rippen,
statt des Leibes - Raum für den Leib. Die Brust schien zu hangen,
so, als würde sie nur von den Wirbeln des Rückens gehalten.
Grösser macht die Gelenke die Magerkeit, quellend der Kniee
Scheiben, unmässig treten hervor die kantigen Knöchel.
Als sie von ferne ihn sah - sie wagte nicht näher zu treten -
rief sie der Göttin Befehle ihm zu. Und so kurz sie verweilt, so
weit sie entfernt von ihm stand, und war sie auch kaum erst gekommen,
glaubte sie dennoch den Hunger zu spüren. Sie liess ihre Schlangen
wenden und lenkte sie hoch ihre Bahn nach Thessalien wieder.
Was ihm Ceres befohlen, vollführte der Hunger, obgleich er
stets ihrem Wirken fremd. Durch die Luft von den Winden getragen,
naht er sich schon dem befohlenen Haus. In des Heiligtumschänders
Kammer tritt er sogleich; den in tiefem Schlummer Gelösten -
Nachtzeit war es - umschlingt mit beiden Armen er enge,
haucht dem Manne sich ein, weht Brust ihm, Rachen und Antlitz
an und flösst seine Leere ihm tief in das hohle Geäder.
Dann, da sein Auftrag erfüllt, verlässt er den fruchtbaren Erdkreis,
kehrt in das Haus des Mangels zurück auf die heimischen Fluren.
Friedlicher Schlummer umfächelt bisher Erysichthon mit sanftem
Fittich. Aber schon im Traum verlangt er nach Nahrung,
regt seine leeren Kiefer, ermüdet den Zahn an den Zähnen,
quält mit nichtiger Speise umsonst die betrogene Kehle,
schlingt an der Mahlzeit statt die flüchtigen Lüfte hinunter.
Aber als dann der Schlummer verscheucht, da raste die Essgier,
herrschte im gierigen Schlund und den unermessnen Geweiden.
Ohne Verzug verlangt er, was Meer, was Erde, was Luftreich
liefern und klagt an gedecktem Tisch, ihn quäle der Hunger.
Speisend fragt er nach Speise, und was einer Stadt, einem ganzen
Volk hätte können genügen, es reicht nicht aus für den Einen.

Buchllink Buchllink (Taschenbuch) Audio-CD's Audio-Cassetten

George Grosz
Details aus 'Hunger'
Lithographie
49x33 cm
aus:
"Hunger, Hilfe von Künstlern", Neuer Deutscher Verlag Berlin (1924)
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BB / 5.8.2004 - Last update: 07.12.2004
Autor: Dr. Bruno Baumann / Seitenaufrufe:
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